Reise in die Bretagne

„Seit meinem 11. Lebensjahr spüre ich an meinem Körper die Auswirkungen von FSHD. Eine zeitlang dachte ich auch, dass ich damit klarkomme, aber es ist jedes Mal wieder schwierig und vielmehr ein scheinbar endloser Weg oder eine Reise mit mir selber. Es gibt dunkle Seiten und dann auch immer wieder Lichtblicke, die Mut machen, weiterzugehen.
Mit meinem Freund reiste ich in die Bretagne, merkte vom ersten Augenblick, dass dieses Land durch einen unsichtbaren Schleier gleich mehrere Geheimnisse verbirgt, man hatte immer das Gefühl, dass hinter der Landschaft noch mehr liegt. Etwas versteckte sich vor dem eiligen Auge eines Touristen. Aber das, was man sah war schon grandios genug, wildes Meer, rauhe Felsen, die sich urplötzlich in Nebel hüllen und hübsche Kirchen aus grauem Stein.
In der Kathedrale von Quimper saß ich ein wenig, um Ruhe zu finden. Es regt mich immer auf, dass ich mich nicht so gut bewegen kann, so langsam laufe und nicht gerade weit komme, immer wieder Pause machen muss. Ich will so viel machen und mein Körper stoppt mich total, es ist so eine frustrierende Erfahrung. Besonders in einer Stadt stresse ich mich immer wieder mit selbstzerstörerischen Gedanken. Und da hörte ich, in der Kathedrale, eine leise innere Stimme, die zu mir sprach: ‚Gehe extra langsam, noch langsamer als Du üblich gehst, gehe bewusst langsamer, jeden Schritt.‘ ‚Aha, was soll mir das bringen? Aber dankeschön.‘ Schon geht's wieder weiter mit der Stadtbesichtigung.
Ein paar Tage später machten wir einen Ausflug auf die Ile de Seine. Mein Freund lief los, um die Insel zu erkunden und ich wollte eigentlich in einem Café auf ihn warten. Aber ich wusste, dass an der äußersten Spitze der Insel eine kleine Kirche stand. Mir war bewusst, dass an solchen Stellen zu früheren Zeiten häufig Kultstätten der damaligen Religion waren und wollte eigentlich unbedingt hin. Also machte ich mich doch auf den Weg und dachte dabei an die Stimme in der Kathedrale. Einen Stock, meine ‚Geh-Hilfe‘, hatte ich ja immer dabei und wenn ich jeden Schritt bewusst langsam ginge wäre ich eine perfekte Pilgerin, dachte ich. Eine ganze Stunde habe ich bestimmt gebraucht (für ca. 700 m), aber der Ausblick an diesem ganz besonderen Ort entlohnte mich fürs ‚Pilgern‘. Eine filigrane Mauer aus kleinen, weißen Steinen trennte die letzten Felsen der Insel vom offenen Meer und ein Falke blickte still in die Ferne. Diesen Nachmittag habe ich also kleine, langsame Schritte machend auf der Insel verbracht und habe insgesamt etwa zwei Kilometer zurückgelegt. Für mich ein Marathon. Durch die Langsamkeit habe ich es geschafft. Und noch etwas habe ich durch die Langsamkeit und die Bewusstheit erreicht. Auf dem Rückweg warf ich von der Fähre aus einen letzten Blick auf die Insel und hatte den Eindruck, als würde mir die Insel zuwinken, als eine Frau, deren Gewand vom Wind gebläht wird. Und ich wusste, dass mir die Insel alles gezeigt hatte, kein Geheimnis mehr, denn ich hatte mein Tempo gedrosselt. Die verborgenen Seiten waren die verschiedenen Zeitebenen, die ich in der Bretagne so überdeutlich wahrgenommen habe und sie erschließen sich, wenn man sein eigenes Tempo an sie anpasst. Und dazu gibt es natürlich tausend Möglichkeiten.

Wie baue ich nun die Entdeckung der Langsamkeit in den Großstadtalltag und ins moderne Arbeitsleben ein? Sehr lange erst mal gar nicht. Ich werde mich selber immer wieder dran erinnern, denn langsam laufe ich besser.“